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Ungewollt verändern (müssen).

"Jetzt hast Du Deinen Cyborg-Status verloren" hörte ich. Vor mir lag der ausgebaute Port. Anderthalb Jahre lang erhielt ich über den Port Medikamente (Chemo, Immuntherapeutikum) + "gab" dort Blut für Blutanalysen. Eine technische Lebensader.

Es war vorbei. Ich brauchte den Port nicht mehr. Und in diesem Ende lag ein Anfang. Mein altes, korrekterweise: mein neues altes Leben hatte begonnen.

 

Es gab Tage, die waren ganz + gar nicht leicht. Ich habe einige (+ auch vermeintliche) Grenzen kennengelernt. Annehmen habe ich gelernt und viel über gut gemeinte, aber verletzende Ratschläge. Mir war vor meiner Krebserfahrung nicht bewusst, wie häufig Menschen Ratschläge + Wünsche aussprechen, um sich selbst zu entlasten. Dabei das eigentliche Gegenüber überhaupt nicht im Blick haben. So habe ich in einer Situation, die körperlich + mental mehr als fordernd war, auch viel über Abgrenzen gelernt.

Meine Zeit mit Krebs wird eine besondere Zeit für mich bleiben. In Summe war es eine gute Zeit.

 

Nun stand ich an der Schwelle meines alten Lebens. Im Gepäck meine Erinnerung an das alte Ich, heraustretend aus einer besonderen, anderen Lebensphase, die aktuellen Erfahrungen einarbeitend. Merkend, dass es "das alte" Leben nicht geben wird, sondern "nur" ein "neues altes Leben".

 

Es überkam mich Wehmut. Ich wurde nicht gefragt, ob ich das alte Ich verändern wollte. Ich musste Vieles neu lernen oder Fähigkeiten vertiefen, um zu überleben. Es hat mich niemand danach gefragt, ob ich diese Veränderung wollte. Zur Wehmut gesellte sich Wut - über die Ohnmacht über die Situation, die Diagnose + die Folgen der Behandlung, und natürlich stellte sich auch die Freude ein, darüber dass ich es geschafft hatte. Obendrauf noch ein Schuss Erleichterung.

 

Da war sie, die Veränderungskurve. Mit all ihren Ambivalenzen, ihrem Vor + Zurück.

 

Veränderungskurve nach Kübler-Ross

Und mitten in einer privaten Auseinandersetzung zeigte sich mein professionelles Ich + wies leise auf alle die, die sich den Stürmen der Digitalisierung, der Energiekrise, dem Klimawandel, einer (agilen) Transformation, einem Change und/oder einer großen privaten Veränderung stellen müssen. Die womöglich auch nicht gefragt wurden. Denn Themen wie die Digitalisierung + der Klimawandel fragen nicht. Sie sind da + fordern mindestens eine Reaktion, eine Veränderung.

 

Ich fühle mit Euch.

 

"Anerkennen des Ist" ist eine Forderung im Changemanagement. Ich mag diese Worte nicht.

  • "Sich echt verabschieden",
  • "richtig würdigen" oder einfach
  • "wirklich Tschüß sagen"

trifft es aus meiner Sicht besser.

 

Ich wünsche Euch, dass Ihr in einer Umgebung seid, in der Ihr Euren Weg finden könnt, in der Ihr Euch gut verabschieden dürft, um neue Wege gehen zu können. Ohne das Gefühl, es sei noch etwas offen. Ich wünsche Euch von Herzen, dass Ihr Eure Veränderungen, egal ob intrinsisch motiviert oder von außen induziert, gut gehen könnt. Dass Ihr genügend Zeit findet + in Eurem Tempo verarbeiten dürft.

 

In diesem Sinne verabschiedete ich mich von meinem Port: "Tschüß, mein Lieber! Ich freue mich sehr auf mein neues altes Leben, dass ohne Dich nicht möglich gewesen wäre."

 

  

Judith Andresen, Portraitfoto auf dem Seminarlieger VILLA HENRIETTE

Autorin: Judith Andresen

Agile Coachin + agile Organisationsentwicklerin

Autorin der Fachbücher "Retrospektiven in agilen Projekten", "Agiles Coaching" + "Agile Organisationsentwicklung"

 

 

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