Die Coronapandemie, der Ukrainekrieg, die Energiekrise, resultierende wirtschaftliche Bedrohungen können Menschen verängstigen oder zumindest sorgen. Während Ängste Stillstand produzieren, kann Bewegung trotz Sorgen (und vielleicht sogar wegen) entstehen.
Männer reagieren auf ihre Ängste eher mit Flucht, Kampf oder Erstarren ("fight, flight or fright") , Frauen reagieren auf ihre Ängste eher mit dem Beschützen ihres Umfelds + Kooperationsangeboten ("tend + befriend").
Neben diesen Antworten können die Betroffenen auch Ausweichhandlungen wie das Prokrastinieren zeigen. Wenn diese Angst haben, ist das Nichtbearbeiten der angstauslösenden oder mit der Angst verbundenen Aufgabe eine gültige (unbewusste) Strategie, um sich vermeintlich aus der Angst zu lösen.
Für Andere ist das Verhalten häufig nicht nachvollziehbar:
- "Was macht der*die denn jetzt?"
- "Was passiert hier, warum tickt das Team so komisch?"
- "Warum macht der*die das nicht, was wir vereinbart haben?"
- "Wieso dreht sich gerade alles um XYZ, wir müssten doch auf ABC gucken."
Angst + Sorge unterscheiden können
In Team-, aber auch Einzelcoachings begegnen uns Menschen sowohl in Ängsten als auch in ihren Sorgen.
Menschen mit Angst können sehr schlecht für sich gute Handlungsalternativen entwickeln + ausprobieren, während Menschen in Sorge Handlungsoptionen entwickeln können (häufig unter Berücksichtigung ihrer Sorgen, die sie als Indikator für bestehende Risiken nutzen können).
Da aber die typischen Reaktionen auf Ängste + Übersprungshandlungen im Normalfall die angstauslösende Situationen nicht lösen (keine Übersprungshandlung der Welt konnte die Coronapandemie beenden), ist die Verwandlung der Angst in eine Sorge das Ziel.
ANGST | SORGE |
Als Gefühl erfassbar | Als Gefühl + mit Ratio erfassbar |
"Fight, Flight or Fright" "Tend + befriend" |
Umgang finden ist möglich; Bewegung kann entstehen |
Vorwiegend körperlich spürbar ("die Angst sitzt in den Knochen) |
Rational erfassbar ("ich mache mir Sorgen") |
Unklar (Themen sind nicht wirklich greifbar) | Spezifisch (Erkannte Themen können zur Lösungsfindung beitragen) |
Häufig unrealistische, "zu große" Befürchtungen | Realistische Befürchtungen |
Beharrlich | Vorübergehend |
Nicht (wirklich) kontrollierbar | Kontrollierbar |
Aus der Angst eine Sorge machen
In wirtschaftlichen Umfeldern fällt es vielen Menschen nach wie vor schwer, ihre Emotionen zu zeigen. Psychologische Sicherheit ist nicht umsonst ein großes Thema in der gesellschaftlichen Debatte. "Ich habe Angst" ist kein häufig ausgesprochener Satz.
Der Duden definiert, das Trösten sei "durch Teilnahme und Zuspruch jemandes Leid [zu] lindern" [zuletzt gelesen: 01/2023]. Teilnahme + Zuspruch. Nicht mehr, nicht weniger.
- "Wie geht es Dir?"
Eine ehrliche Frage nach dem Befinden, den Raum zu öffnen für eine schwierige Antwort, kann Menschen dazu bewegen, sich ihren Ängsten zu stellen.- Aktives Zuhören ist ein probates Mittel für agile Coaches, um diesen Raum zu öffnen: "Wenn ich Dir zuhöre, spüre ich aus Deinen Worten Angst heraus."
- Empathie, echtes Nachfühlen, kann den Beteiligten helfen, ihre Ängste zu formulieren: "Ich in der Situation hätte jetzt Angst."
- Angst ist oft körperlich spürbar. Ein Grummeln im Magen, der schmerzende Rücken, die wiederkehrenden Kopfschmerzen. Ängste haben viele Ausdrucksformen. Es kann hilfreich sein, die Frage "Wie geht es Dir?" auch auf Körperlichkeit auszuweiten, und so Symptome der Angst in die Sprachfähigkeit zu heben.
- "Jammern hilft."
Ängste sind nicht gut greifbar. Die einhergehenden Befürchtungen sind gleichermaßen diffus wie groß. Diesem Diffusen einen Raum zu geben, kann den Betroffenen helfen, genau das zu erkennen.
Raum geben heißt hier auch Zeit geben. In Coachingsitzungen werden die wenigsten Coachees mit dem Satz eröffnen: "Die Situation macht mir Angst." Wenn der Raum fürs Jammern gegeben wird, können die Coachees womöglich ihren Gefühlen einen Namen geben + genauer hinsehen und -fühlen. - "Schlechte Gefühle sind wie Scheinriesen. Mit dem Aussprechen werden sie kleiner."
Wenn Ihr Ängste in die Sprachfähigkeit bekommt, werden diese kleiner werden. Mit dem Aussprechen von möglichen Ausgängen werden diese häufiger konkreter, das Ungefähre + Mächtige des Unbekannten kann durch die beteiligten Menschen häufig in realistische Bahnen gelenkt werden.
Ängste + damit einhergehenden Befürchtungen auszusprechen, macht es den Beteiligten möglich, mit diesen umzugehen. Der*die Angsthabende braucht in erster Linie Trost (zur Erinnerung: Teilnahme + Zuspruch), um sich aus der Angst lösen zu können. Je größer die Betroffenen die Umstände empfinden, desto mehr Raum wird es brauchen. Manche Ängste werden sich schon nach einer Aussprache verflüchtigen oder zumindest kleiner werden, andere werden mehr Raum + Zeit brauchen, bis sie sich in Sorgen verwandeln.
So manche*r mag da nicht so genau hinsehen oder -hören wollen. "Aber was soll ich tun, ich kann doch auch nichts ändern. Das macht es doch nur schlimmer." Im Zuhören, im Da-Sein, im mit-der-anderen-Person-annehmen steckt ein besonderer Zauber. Da zu sein, zuzuhören genügt schon. Und das wird es nicht schlimmer machen, sondern einfacher. "Geteiltes Leid ist halbes Leid" heißt es. Das ist so wahr.
Und in manchen Fällen wird dieses Gespräch gar nicht gelingen. Vielleicht ist die Angst nicht aussprechbar, vielleicht sitzt sie so tief, dass sie nicht bewältigbar erscheint, vielleicht ist sie nur gefühlt + noch nicht fassbar.
Die letzte Zeit lieferte für viele Menschen + Organisationen besondere Herausforderungen, die Angst machen. Umso schöner sind die Momente, in denen wir Menschen darin begleiten durften, ihre Ängste loszulassen und zu Sorgen zu machen.
Ein wahrlich befreiender Moment - und wie schön, wenn Menschen wieder handlungsfähig werden - trotz fieser + angsteinflößender Umstände. Und den Schlüssel dazu haben wir täglich in der Hand: "Wie geht es Dir?"
Autorin: Judith Andresen
Agile Coachin + agile Organisationsentwicklerin
Autorin der Fachbücher "Retrospektiven in agilen Projekten", "Agiles Coaching" + "Agile Organisationsentwicklung"
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