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In die Selbstorganisation wiedereingliedern

Die Gesetzgebung nennt es "Wiedereingliedern", wenn jemand nach langer Arbeitsunfähigkeit in die Arbeitsorganisation zurückkehrt. Das Team der BERATUNG JUDITH ANDRESEN ist nicht gegliedert, es ist selbstorganisiert. Ich kehre nicht in eine Rolle zurück, ich übernehme Zug um Zug Aufgaben (zurück).

 

Ein Erfahrungsbericht nach vier Wochen Wiedereingliederung.

Die Vorgeschichte

Ursprünglich meldete ich mich mit der Aussage beim Team ab, dass ich in vier Monaten zurück sei.  Wie das Restteam aus einem Übergangs- einen eher festen Zustand gemacht hat, welche Lernzyklen sie gebraucht haben, um das klarzukriegen, welche normativen, strategischen + operativen Aufgaben sie wahrnehmen sollten, mussten und/oder konnten, ist auch eine, aber andere zu erzählende Geschichte. 

 

Krebs hat Wahrscheinlichkeiten + verläuft individuell. Mussten wir alle noch lernen. Es waren nicht vier, sondern fast zwölf Monate Abwesenheit.

 

Nun, hier bin ich nun:

  • Ich kann + will wieder arbeiten
  • Ich kann + will nur Schritt für Schritt ins volle Arbeits- + Teamleben zurück.
  • Zwei Stunden am Tag. Mehr geht (noch) nicht.

Mit Schwung aus der Reha in die Selbstüberforderung

Ich habe mir einen Plan gemacht: mit Teammitgliedern, Kund*innen + Partner*innen gesprochen und Folgetermine ausgemacht. Mein Kalender ist strukturiert, es gibt viele Freiflächen. Die selbst auferlegten zwei Stunden am Tag interpoliere ich übermütig + optimistisch nach oben. Ich habe Kraft. Ich bin tumorfrei. Das geht!

 

Mir macht alles Spaß: endlich keinen Krebs mehr zu haben + fachlich wirken zu können, für Teammitglieder + Kund*innen wirksam, spürbar sein, neue Möglichkeiten erörtern. Endlich wieder einen Beitrag leisten können. Das ist toll! Der Blick geht nach vorne. Ich will los, ich möchte leisten, ich will dabei sein.

 

Erst leise, dann lauter, fragen erst einige, dann nahezu alle Teammitglieder: ob ich mich an den Tunnelradar erinnern könne? Es sei unklar, wann ich da sei oder nicht. Also (je nach eigener Facon) trage man nun Kalendertermine ein oder nicht. Die Teammitglieder äußern ihre Sorge um meine Belastbarkeit. Sie würden meine Fähigkeiten gerne nutzen, hätten aber Sorgen, dass ich meinen Beitrag nicht leisten, sondern mich zerfasern würde.

 

Ich kann das nicht verstehen! Ich komme aus der Reha zurück, hatte noch kurz Verschnaufpause + fühle mich großartig. Läuft doch. Nicht? Nach einer Woche bin ich Abends zu fertig, um meinen Mann zu daten. 

 

Sitze in meiner Überforderung + weiß nicht vor Unruhe, Gefallenwollen + endlich-wieder-ganz-fit-sein-wollen wohin mit mir.

 

Besinne mich: "Nein, so geht es nicht."

Ich brauche Unterstützung. 

Wie (fast) immer: lernzyklen sind eine großartige Hilfe

Iterativ, inkrementell, lernen - in Lernzyklen entwickeln. Selbstorganisation. In Summe: echte Zusammenarbeit möglich machen.  

 

Das ist, wie wir arbeiten. 

 

Und ich? Ich wollte mich alleine wiedereingliedern. Und bekomme während des nicht stattfindenden Dates klar, dass mein schlechtes Gewissen ob meiner langen Abwesenheit mir nicht weiterhilft. Dass das "ich" mir nicht hilft. Und dass ich, genauso wie in den vergangenen Monaten, auf das Team vertrauen werde (+ muss, was mir nicht immer leicht fällt, und vielleicht auch mal eine Geschichte wert wäre). Diese Erkenntnis ist anstrengend für mich. Ich würde gerne kein schlechtes Gewissen haben und einfach annehmen können. Das gefiele mir besser.

 

Und: es ist, wie es ist; Ich bin, wie ich bin. Ich hole den Rechner raus + schreibe in den Chat: "So, wie ich es probiert habe, funktioniert es nicht. Ich brauche Eure Unterstützung." 

 

Am nächsten Tag zeigt sich André, sagt Unterstützung zu und macht uns erstmal einen Termin. Er wird mich in meiner Wiedereingliederung begleiten, unterstützen, wohl: führen. In Wiedereingliederung bin ich aktuell auf Reifegrad R2. Ich weiß, dass ich es nicht (alleine) kann. André ist klar, ich nicht.

 

Wir einigen uns auf wöchentliche Lernzyklen. André schlägt das vor, und ich maule: "Eine Stunde, um die restlichen neun Stunden zu organisieren?" In mir regt sich Widerstand ob des Verhältnisses + der (errechneten) Effizienz. Doch nehme ich den Vorschlag an. Ich vermute, dass André besser sehen kann, wie die Wiedereingliederung gut funktionieren kann. 

 

Ich werde schnell lernen, dass sich dieser enge Takt der Wiedereingliederung lohnt. 

Transparent + konsequent sein

Ich war ja ganz zufrieden mit meinem Kalender. Führte mich in die Überforderung, okay, zugegeben, aber ich war sehr zufrieden. Da waren Freiflächen drinnen. Viele, ganze leere Tage!

 

André zeigt mir meinen Kalender - mit den Augen eines Teammitglieds.

 

Ich wollte das Signal geben: "Wenn Du sprechen möchtest, können wir einen Termin machen, im Prinzip habe ich Zeit." Aber das ist nicht die Nachricht, die die anderen Teammitglieder lesen können.

 

André zeigt mir, welche Fragen entstehen, wenn jemand Anderes meine Einträge liest. Er macht mir deutlich, dass das wahlweise zu viele Termine für mich ergibt oder Verwirrung bei den anderen Teammitgliedern + unerfüllte Bedürfnisse.

 

Selbstorganisation + im Team arbeiten, heißt konsequent + transparent zu handeln. Wie schwer ist es doch, transparent + konsequent zu sein, wenn ich selbst nicht aufgeräumt bin. Das verstehe ich im Gespräch mit André.

 

Also baue ich Terminblocker namens "nicht da" ein. Bin stolz auf mich. Während der Woche hakt es immer noch. Ich lande wieder in der Überforderung. Schlafe schlecht. Bin gehetzt.

 

Oh, man.

 

Unter Druck zeigen sich die alten Muster. "Ich möchte da sein, möchte empathisch + klar führen. Wenn ich mich zwischen den Bedürfnissen des Teams + meinen entscheiden muss, überhöre ich mich leicht." 

Nächste Runde mit André, nächste Erkenntnis: noch deutlicher sein, vorallem gegenüber mir selbst, wann ich was machen kann + will. Konkret heißt das: für Kundentermine Vor- + Nachbereitungszeiten eintragen, noch mehr Blocker "Pause" eintragen. 

 

Die Umbenennung von "nicht da" auf "Pause" tut mir gut. Sie zeigt mir, dass ich Teil des Teams, aber zu der Zeit nicht verfügbar bin.

Meine Erkenntnis: wenn die Zeit knapp ist, muss ich deutlich für alle, nicht nur für mich, damit umgehen. Und lerne mit neuer Perspektive diese alten, im Team bekannten, Vorgehensweisen neu.

 

Die ersten Kund*innentermine funktionieren gut. Die Woche läuft deutlich besser.

 

Auf dem Teamtag sprechen wir zusammen über meine Wiedereingliederung. Ich höre die Anmerkungen der Teammitglieder und höre vorallem Vorwürfe: "Das klappt nicht". Ich versuche, mich gegen die aufkeimenden Schuldgefühle zu wehren. Versuche, mich zu erklären. Bleibe stecken. Mein Gefühlszustand droht von meiner R3-Emotion auf R2 zurückzufallen. Ich bin dankbar, dass André die Anmerkungen annimmt, bewertet und in der Bearbeitung dorthin verweist, wo ich sie verarbeiten kann: in unseren Lernzyklus.

 

Führung. Was ein Geschenk doch Führung ist, wenn sie gelingt.

 

Ich bin erleichtert + dankbar. Wir sind auf dem richtigen Weg, auch wenn es im Detail Anmerkungen gibt. Und ich kann diese zur Seite legen, weil ich um André und dessen Verantwortungsübernahme um meine Wiedereingliederung weiß.

 

André führt aktuell immer wieder auf, was aus seiner Sicht meine Priorität sein sollte. Er fordert Wirksamkeit fürs Team ein. Ich ahne, dass er meine aktuelle Arbeitsverteilung anders beurteilt als ich. Das hat zumindest er gesagt. Mein bekanntes Muster "Ich. Alleine. Vorweg." ist damit noch nicht einverstanden.

 

Die nächsten Lernzyklen werden kommen. Demnächst werde ich auf vier Stunden am Tag erhöhen. Ich fühle mich noch nicht bereit dafür. Pläne sind etwas Komisches. In einem der nächsten Lernzyklen werde ich herausbekommen, ob + wie das gehen wird.

 

Und freue mich auf den nächsten Lernzyklus am Montag. Auf André, seine Klarheit + Empathie, seine Führung + auf die richtigen Fragen, auf die ich Zug um Zug Antworten finde werde - und so wieder im Team ankommen + meinen Beitrag leisten kann.

P.S. Ich hoffe, dass ich allen, die sich in diesem Jahr bei mir gemeldet haben, mir Bücher, Blumen, Abwechslung, Anregung und/oder ihre Zeit geschenkt haben, ausreichend gedankt habe.

Wenn nicht: Ihr wart alle zusammen wundervoll! Ihr habt mich durch eine schwere Zeit getragen. Danke <3

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