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Cynefin am Beispiel Profifußball

Als agile Coaches kommen wir täglich mit dem Modell Cynefin [kinäwijen] in Berührung.

 

Dave Snowden abstrahiert in diesem Modell verschiedene Arten von Projekten beziehungsweise Aufgaben.

 

Er kommt zu dem Schluss, dass Aufgaben und Projekte unterschiedliche Lebensräume haben. Je nach Lebensraum benötigt das Projekt eine andere Herangehensweise, um zum Ziel zu kommen.

 

Dave Snowden gliedert unterschiedlichen Projektarten

in vier Habitaten ein (Cynefin ist das walisische Wort für Habitat oder Lebensraum).

  • Obvious (Offensichtlich): Hierunter subsumiert Snowden offensichtliche Tätigkeiten, die anhand einer Checkliste abgearbeitet werden können. Es gibt ein „best practice“-Vorgehen. Diese Checklisten können sich durch den Erwerb von neuem Wissen oder der Änderung von Rahmenbedingungen über die Zeit ändern.
  • Complicated (Kompliziert): Es existiert ein dezidiertes Ziel und diverse Abhängigkeiten. Die möglicherweise eintretenden Risiken sind bekannt und können gemanagt werden. Das heißt, es ist möglich einen Plan zu erstellen, der diese Abhängigkeiten und Risiken berücksichtigt. Aufgrund von Erfahrungen oder weitergegebenen Wissen sind Ursache-Wirkungs-Beziehungen grundsätzlich bekannt. Das Vorgehen wird als „good practice“ bezeichnet.
  • Complex (Komplex): Bei dieser Art ist das Ziel nicht eindeutig benennbar – es wird erst mit fortschreitender Zeit geschärft. Es existiert zu Beginn ein Zielraum. Es gibt keinen Experten, der einen Plan von Start bis zum Ende aufstellen kann. Es gibt zum Start noch keine eindeutigen Zielkriterien, es gibt keine Person, die genau diesen Weg schon genau so beschritten hat und es existieren sehr viele Abhängigkeiten, die zu Beginn nicht allesamt zu benennen sind. Hier ist ein anderes Vorgehen gefragt: in kleinen Schritten vorwärts gehen und auf das reagieren, was passiert – und dabei niemals den Zielraum aus den Augen verlieren. Expertenwissen ist auch hier notwendig: die kleinen Schritte müssen umgesetzt werden und es muss entschieden werden, welcher Schritt als nächstes ansteht. Ursache-Wirkungs-Beziehung ist häufig erst im Nachhinein erkennbar. Dieses Vorgehen wird als „emergent practice“ bezeichnet.
  • Chaotic (Chaotisch): Das vierte Habitat wird als Chaotic bezeichnet. Damit ist mitnichten gemeint, dass das ganze Projekt einen chaotischen Eindruck hinterlässt (das wäre die Projektmethode SoWieBeimLetztenMal). Dieses Habitat zeichnet aus, dass es eine Idee oder einen Anlass gibt, aber noch nicht genau beschrieben werden kann, was als Ziel oder Ergebnis erwartet wird. Innovationen befinden sich in diesem Habitat. Auch hier ist ein schrittweises Vorgehen und die regelmäßige Überprüfung der Richtung sinnvoll. Das Vorgehen wird als „novel practice“ bezeichnet.

Zum fünften Habitat – disorder (Unordnung) – kommt es nach Dave Snowden immer dann, wenn Projektart und Vorgehen nicht zueinander passen. Während die Habitate Obvious und Complicated auf Menschen mit Expertise und einen Plan zurückgreifen, ist das Vorgehen bei Complex und Chaotic geprägt von kleinen Experimenten und Lernen. Das kann eine Herausforderung sein, wenn das eigene Gehirn gerne eine Struktur sehen möchte und Experimente bisher nur durchgeführt wurden, um etwas zu beweisen, das schon bekannt war. Wir brauchen für diese Art von Projekten eine Lernkultur. Fehler bringen immer auch neue Erkenntnisse und ermöglichen ein Reagieren auf Veränderungen.

Sandra Schwedler
Sandra Schwedler

Cynefin ist ein sogenanntes Sense-Making-Framework. Das bedeutet: es soll keine Entscheidung herbeiführen, sondern zur Schaffung eines gemeinsamen Bewusstseins und Verständnisses für die Blickwinkel verschiedener Personen dienen. Die meisten Organisationen vereinen die verschiedensten Habitate in sich. Und je nachdem mit welchem Blickwinkel oder Schwerpunkt auf eine Aufgabe oder Projekt geschaut wird, ergeben sich neue Erkenntnisse.

 

Ich persönlich erkläre Cynefin und das Zusammenspiel der verschiedenen Habitate gern am Beispiel Profifußball – als Aufsichtsratsvorsitzende des FC St. Pauli liegt das auch recht nahe.

 

Ein zusammenhängendes Bild gibt einen guten Einblick über die verschiedenen Arten und warum es in jeder Organisation, aber auch innerhalb von Teams, unterschiedlicher Herangehensweisen bedarf.

Obvious

Wenn die Spieler einen Trainingsplan für die Urlaubszeit mitbekommen, dann ist das ein „best case“-Vorgehen. Die Spieler sollen auch nach dem Urlaub auf einem hohen Fitnesslevel sein.

Diese Checkliste ist nicht für alle Zeiten final, sondern ändert sich im Laufe der Zeit – aufgrund von neuen Erkenntnissen oder geänderten Rahmenbedingungen. Ebenso ist auch die Vorlage von Spielerverträgen bei den Gremien ein offensichtliches Vorgehen.

Es ist bekannt, was alles vorgelegt werden muss, damit das entsprechende Gremium zeitnah über einen Vertrag abstimmen kann.

 

Complicated

Kompliziert sind planbare Vorgänge, wie zum Beispiel eine Mitgliederversammlung, ein Trainingslager oder ein Heimspieltag.

Der Ablauf eines Heimspieltages ist unter anderem abgestimmt auf den Wochentag, die Anstoßzeit und natürlich auch den Gegner. Es gibt einen Plan, wann die Tore zum Stadion öffnen, wie viele Ordnungskräfte an welchen Orten eingesetzt werden, wann die Teams eintreffen, wann der Stadionsprecher oder die Stadionsprecherin was sagt, wo Tickets abgeholt werden können und so weiter und so fort. Aus der Erfahrung heraus gibt es Standardvorgehen für viele Aufgaben. Es sind aber auch Risiken bekannt diese können entsprechend gemanagt werden.

Zum Beispiel treffen an einem Freitag bei der Anstoßzeit 18:30 Uhr die Zuschauenden eher gesammelter, zeitnaher zum Anpfiff ein. Ebenso ist die Wahl der Getränke abhängig vom Wochentag, Anstoßzeit und auch der Temperatur.

Auch bei einem Plan kann etwas schief gehen. Es kann zum Beispiel passieren, dass ich vorhandenes Wissen oder Erfahrungen nicht nutze. Sollte dieser Plan allerdings ständig angepasst werden, lohnt es sich genauer hinzuschauen, ob nicht doch zu viele Abhängigkeiten vorliegen, die ich nicht mehr auf altbekannte Weise steuern kann.

Complex

Eine Kaderplanung hängt davon ab, wer zu dem gewünschten Zeitpunkt frei und/oder bezahlbar ist. Des Weiteren beeinflusst den weiteren Verlauf, was die Spieler an Qualitäten mitbringen, die ich bereits verpflichtet beziehungsweise unter Vertrag habe.

Aber auch was sich während der Transferperiode ergibt: Ungeplante Abgänge, gescheiterte Abgaben von Spielern, Verletzungen, Formtiefs – all das hat Einfluss und ist nicht planbar. Ebenso nicht möglich ist es, den Saisonverlauf vom ersten bis zum letzten Spieltag vorher zu bestimmen.

Das Ziel zum Saisonende wird mit einer Range (zum Beispiel einstelliger Tabellenplatz) beschrieben anstatt einen dezidierten Platz zu nennen. Dieses weist auf einen Zielraum hin. Die Abhängigkeiten sind vielfältig, zum Beispiel:

  • Verletzungen,
  • Formkurven,
  • Einhalten von Regenerationsphasen oder
  • Wetter

Es gibt es vieles was nicht bis zum letzten Quentchen in unseren Händen liegt. Der Zyklus, der dem Fußball obliegt, geht immer von Spieltag zu Spieltag.

Dazwischen werden (Trainings-)Maßnahmen ergriffen, die dazu führen sollen, das nächste Spiel zu gewinnen. Warum das jeweilige Spiel gewonnen oder nicht gewonnen wurde, ist im Nachhinein erkennbar.

Und manchmal liegt es so glasklar auf der Hand, das die Frage gestellt wird: „Warum habt ihr denn nicht xyz“ gemacht? Hätten wir das zu dem damaligen Zeitpunkt gewusst, hätten wir das getan. Unserer Wissensstand war aber – wie von allen – zu dem Zeitpunkt ein anderer.

 

Chaotic

Der FC St. Pauli verzichtet aufgrund seiner Werte und seines Selbstverständnis auf viele Geldquellen, auf die andere Clubs zurückgreifen.

So kommt eine Ausgliederung und ein Anteilsverkauf an einen Investor genauso wenig in Frage wie der Verkauf des Stadionnamens oder die Bewerbung von Eckbällen.

Gerade aber weil andere Vereine der Ligen genau diese Quellen anzapfen, muss der FC St. Pauli auch neue Möglichkeiten finden, um finanziell auf Augenhöhe mithalten zu können.

Am Anfang steht also nur die Idee, Geld zu generieren, um erfolgreich Fußball spielen zu können. Diese Idee wird von verschiedenen Parametern eingeschränkt – zum Beispiel von den bestehenden Werten.

Verschiedene Ideen wurden in den letzten Monaten und Jahren entwickelt. Einige wurden schnell wieder verworfen, einige nach einigen Schritten und einige wenige haben es bis zu einem Entscheidungsstatus geschafft.

Aktuell denkt der Verein gerade über eine Genossenschaft nach, die sich - wie auch immer - am Stadion beteiligt. Zur Zeit wird dafür eine Entscheidungsvorlage erarbeitet, so dass über das weitere Vorgehen noch im Herbst entschieden werden kann. Ob auf diese Idee dann eine komplexe Entwicklungsphase folgt oder aber diese wieder verworfen wird, das steht noch in den Sternen.

 

 

Richtig handeln

Unabhängig von der Branche kommen in Unternehmen und Organisationen – wie auch im Profifußball - alle der Projekthabitate vor.

Selbst innerhalb eines Teams können die verschiedenen Aufgaben oder Projekte unterschiedlichen Habitaten angehören. So gibt es im Profifußballteam neben den erwähnten Checklisten sowie Plänen für Trainingsabläufe auch die Aufgabe ein Spiel zu gewinnen.

Und was, wenn nicht das, ist eine komplexe, nicht komplett planbare Aufgabe?


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