Agile Coaches hören häufig den Satz: "Um das Experiment zu wagen, brauchen wir ganz schön viel Mut!" oder "Um das zu gehen, fehlt mir der Mut". Oder auch: "Wie machst Du das einfach? Das kann ich nicht. So mutig bin ich nicht."
Sowohl in der Begleitung von Teams, Organisationen als auch Individuen wird von den Coachees fehlender Mut adressiert.
Spontan reagieren viele Coaches mit Ermutigungen auf die geäußerte Mutlosigkeit. Mit Sätzen wie "Ihr schafft das schon!", "Ach, macht einfach -- das wird schon!" oder "im Fall XYZ haben die Klienten $ABC das auch geschafft. Nehmt Euch ein Beispiel!" versuchen die Coaches, den Coachees Mut zu machen.
Dies geschieht aber mit der Gefahr, dass die agile Coaches ihre Haltung verlieren und Teil der Lösung werden.
Ermutigen die Coaches Coachees zu Handlungen, kann sich der Unwille auch gegen die Coaches richten: "Du machst Dir das zu einfach!", "Bei anderen mag das gehen, aber bei uns ist das speziell." Ermutigungen sind in diesem Fall kontraproduktiv, weil die Coachees im Fall des Nicht-Hören-Wollens beginnen, die bestehende Situation zu verteidigen.
Treten nun Befürchtungen und / oder Risiken bei der Durchführung ein, werden die Ermutigungen die agilen Coaches einholen: "Aber Du hast gesagt, wir können das machen!" oder "Das war doch eine Idee. Es ist klar, dass das bei uns nicht funktionieren würde".
Da die direkte Antwort auf Mutlosigkeit, die Ermutigung, in die Unwirksamkeit der Coaches führen kann, ist die Frage, welcher Anstoß auf eine solche Coachee-Aussage wirkungsvoll sein wird. Anders formuliert: welche Coachinghypothese ergibt sich aus diesen Beobachtungen?
Fehlender Mut -- ein Puzzlestück zum Systemverständnis?
Es ist also die Frage, welche modellbasierte Interpretation (und nachfolgend welcher Anstoß) für agile Coaches aus der Beobachtung entstehen, dass die Coachees über fehlenden Mut sprechen. Eine möglicher Zugang ist das Spannungsgefüge aus Mut und Angst.
Mut und Angst werden bisweilen in einem Widerspruchsverhältnis gesehen. Der Mutige scheint angstfrei zu sein oder zumindest weniger von Angstgefühlen belastet. Diese Vorstellung entspricht nicht
der psychischen Wirklichkeit: Angst und Furcht sind keine mit dem Mut unvereinbare Gemütsverfassungen, sondern im Gegenteil Komponenten im Spannungsgefüge verantwortbaren Wagemuts. Sie
kontrastieren miteinander, schließen sich aber nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen einander.
Quelle: Wikipedia, Stand: 01/2019
Die Psychologie beschreibt also einen Zusammenhang zwischen Mut und Angst.
Nach Warwitz kommt dem Mut die Funktion des Antriebsfaktors, der Angst die Funktion des Bremsfaktors zu. [...] Der Mutige beweist Handlungsfähigkeit zwischen den Extremen „Tollkühnheit“ und
„Angstlähmung“.
Quelle: Wikipedia, Stand: 01/2019
Anders formuliert: wenn Coachees von fehlendem Mut berichten, dann suchen sie nach dem Antriebsfaktor "Mut" in der Veränderung, während die Angst sie ausbremst.
Ängste überwinden -- passende Anstöße formulieren
Für die modellbasierte Interpretation durch die Coaches gilt die Zusammenfassung:
Wo Mut gebraucht wird, ist Angst da.
Vielen Coachees ist nicht klar, dass mangelnder Mut eine Aussage über bestehende Ängste beinhaltet. Dennoch werden Coaches nicht in allen Fällen diesen Dualismus thematisieren. Der Dualismus kann für Anstöße genutzt werden.
Die Aufgabe der agilen Coaches ist es, durch geeignete Anstöße das Systemverständnis der Coachees zu sorgen.
Wenn das Anerkennen von Ängst ein Hebel für ein vergrößertes Systemverständnis der Coachees (und damit ein Weg in die Wirksamkeit) sein könnte, werden Coaches diesen Dualismus thematisieren.
Weitere Beobachtungen und nachfolgende (modellbasierte) Interpretationen können helfen, wirkungsvolle Anstöße zu formulieren:
- Schließen die Coaches aus weiteren Beobachtungen, dass die Coachees neben dem fehlenden Mut auch eine starke Defizitorientierung zeigen, könnte ein Impuls in Richtung Ressourcenorientierung
helfen: "Ihr sagt Euch fehlt der Mut. Ihr habt ja als Team ja schon andere Wagnisse erfolgreich bestanden. Was habt Ihr da für Techniken genutzt? Können die jetzt auch helfen?"
Ein direktes Adressieren des Dualismus könnte in diesem Fall zunächst die Defizitorientierung bedienen. - Neben einer ausgeprägten Defizitorientierung könnte eine Interpretation weiterer Beobachtungen lauten, dass die Coachees in der "Komfortzone Jammern" sind. Dann könnte der Impuls lauten: "Okay, verstehe ich. Ihr stellt Euch jetzt hin und sagt Euch fehlt der Mut. Das ist ja sehr bequem. Ihr könnt jammern, niemand muss sich bewegen. Was müsstet Ihr für Euch tun, damit Ihr dieses Experiment gehen könnt?
- Wenn die Coaches Beobachtungen derart interpretieren, dass das gewählte Experiment nicht stimmig (zum Beispiel zu groß) für die Coachees ist, kann das Benennen fehlenden Muts ein Indikator sein, dass die Coachees diese Unstimmigkeit spüren. Ein Impuls könnte hilfreich sein: "Wisst Ihr, wenn Ihr von fehlendem Mut sprecht, höre ich, dass Ihr Mut braucht, um etwas zu überwinden. Und das ist ganz schön groß. Über was redet Ihr hier? Was könnte geschehen? Welches Risiko steckt in dem Experiment? Wie könnt Ihr das verhindern oder minimieren?"
- Wenn die Beobachtung ist, dass der fehlende Mut anderen Personen zugeschrieben wird, ist zunächst zu "prüfen", ob eine Projektion zu vermuten ist: "Moment, Ihr sagt, Person $DEF braucht ganz schön Mut. Ich dachte, dass das eine Lösung ist, die Ihr machen könnt. Was könnt Ihr dafür leisten, damit Ihr das zusammen mit $DEF hinbekommt? Was ist Euer Beitrag?"
- Wenn die Coachees stark entpersonalisieren ("man braucht Mut", "irgendwer müsste das schon mal tun"), kann es helfen, sowohl die Entpersonalisierung als auch den Dualismus zwischen Angst & Mut als Impuls zu thematisieren: "Ich nehme wahr, dass Ihr gerade stark im "man" spricht. Gleichzeitig attestiert Ihr diesem "man" fehlenden Mut. Wo Mut notwendig ist, ist Angst. Könnt Ihr das bitte konkret benennen. Worüber sprecht Ihr? Was befürchtet Ihr in diesem Experiment?"
Eine vollständige Coachinghypothese formuliert einen Anstoß (Impuls, Intervention, Sekundärberatung) nach Formulierung von Beobachtungen und nachfolgenden modellbasierten Interpretationen. Wirkungsvoll ist es, wenn Coaches die Einladung zur Ermutigung nicht annehmen, sondern entsprechend aller Beobachtungen und Interpretationen einen klaren Anstoß formulieren, der zu einem erweiterten Systemverständnis der Coachees führt.
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