Vor kurzem wurde ich gefragt: "Stützen agile Methoden den Kulturwandel?" Ich antwortete: "Bestimmt. Ändert ja Verhalten."
Das ist inhaltlich korrekt. Mit dem nachfolgenden Kommentar ergänze ich diese Antwort, so dass sie verständlich wird.
Organisationskultur ist ein indirekter Faktor
Menschen verhalten sich in Organisationen. Sie handeln bei bestimmten Kontexten auf für die Organisation typische Arten. Und in anderen Kontexten handeln sie nicht. Manchmal begründen sie ihr Verhalten, manchmal nicht."
Das könnt Ihr ablesen an Sätzen wie "so machen wir das" oder "darauf sind wir stolz". Diese typischen Handlungsweisen werden aber auch über Sätze wie "das tun wir nicht" oder "das geht hier nicht" expliziert.
Edgar Schein beschreibt sehr gut in seinem Modell, woran Organisationskultur ablesbar ist und was diese ausmacht.
Sowohl die sichtbaren Verhaltensweisen sind ansprechbar und beschreibbar als auch Artefakte wie zum Beispiel die typische Bekleidung in einer Organisation.
In der einen Organisation mag es total üblich sein, dass Menschen Business-Kostüme und Anzüge mit Krawatten tragen, in der nächsten Organisation ist es üblich, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit Sneakers, Jeans und T-Shirts in der Arbeit erscheinen. Neue Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen können ablesen, was von ihnen erwartet wird. Sie werden aber auch auf die herrschende Normierung in der Organisation hingewiesen: "Bei uns ist es üblich, dass...." Neben diesen Artefakten sind also auch Verhaltensweisen sicht- und besprechbar.
Diese basieren auf kollektiven Werte und Gefühlen zum Beispiel über das Richtige in einer Organisation. Diese kollektiven Werte und Gefühle sind ebenfalls besprechbar. Häufig sind diese nicht von allen Beteiligten zu jedem Zeitpunkt abrufbar, aber durch geeignete Kommunikationsformen können die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Artefakte und Verhaltensweisen mit ihren kollektiven Werten begründen: "Für uns ist es wichtig, dass..."
Nicht mehr direkt zugänglich im Gespräch sind die Grundannahmen der Beteiligten. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen tragen Muster, Bewertungen, insgesamt also Annahmen in sich, die diese nicht direkt abrufen oder explizieren können. Alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen lassen sich von ihren Grundannahmen leiten. Diese Annahmen sind sehr persönlich.
- Führung: Wer darf Leitimpulse setzen? Darf ich selbstwirksam sein?
- Hierarchie: Wo sind welche Entscheidungen verortet? Darf ich eingreifen?
- Produkt: Was ist das Produkt? Darf ich meinen Beitrag leisten?
- Widerspruch: Wer darf in Prozessen widersprechen? Darf ich widersprechen?
- Lernen: Wie funktioniert Lernen? Darf ich Fehler machen?
Das Handeln jedes einzelnen Menschen in dieser Organisation wird durch diese Grundannahmen bestimmt. Wenn ich die annehme, dass ich Vorgesetzten nicht widersprechen darf, werde ich das im üblichen Rahmen, der einen solchen Widerspruch nicht vorsieht, nicht tun. Diese Grundannahmen können durch gelebte Werte, Überzeugungen und Artefakte bestätigt werden. So könnte der Begriff "Human Resources" den Eindruck bestätigen, dass Menschen und deren Interaktionen im Unternehmen nicht so wichtig sind.
Einfach mal machen -- ein Schlüsselmoment
Das agile Manifest fordert schnelles, kundenzentriertes Liefern. Es setzt dabei auf die Kraft selbstorganisierter Teams und Lernen.
Agile Methoden zahlen auf diesen Zielraum ein. Insofern bieten agile Methoden einen neuen Erfahrungsraum ein. In einem sehr kleinen Raum können die Beteiligten neue Erfahrungen machen, die womöglich im Widerspruch zu ihren Grundannahmen stehen.
Schritt für Schritt, Experiment für Experiment und Retrospektive für Retrospektive machen die Beteiligten neue Erfahrungen, die neben ihren Grundannahmen stehen. Das öffnet den Raum, Werte und das Gefühl für das Richtige in der jeweiligen Organisation zu besprechen.
Eine Vorab-Debatte über die neue Kultur wird schwierig werden. Dabei bringen die Beteiligten mehr oder minder klar ihre Grundannahmen ein. Und es ist offen, ob in diese Teams sich das Recht zusprechenen, sich selbst zu organisieren zu dürfen.
Erfahrungsbasiertes Lernen ist einer der wesentlichen Schlüssel für den Paradigmenwechsel vom komplizierten zu einem komplexen oder chaotischen Kontext.
"Einfach mal machen!" ist der Schlüssel, um neue Erfahrungen zu machen, die die Grundannahmen verändern können. So kann der Schlüssel ein einziges Erlebnis sein.
In der Organisation wird das Verhalten nach "Die da oben haben keine Ahnung von unserem täglichen Geschäft. Sie drangsalieren uns und fordern Unmögliches. Wenn jemand widerspricht, bekommt dem das nicht" gelebt.
In einer Fortbildungsveranstaltung des Führungskreises herrscht große Unruhe. Auf Nachfrage der agilen Coaches (im Sinne von "Störungen haben Vorrang") erklären die Mitglieder des
Führungskreises, dass sie gestern eine "unmögliche" Anweisung erhalten haben. Diese würde zu Minderleistung und Demotivation ihrer Teammitglieder führen.
Die agilen Coaches intervenieren mit einer Übung.
- Der Führungskreis erarbeitet die vermutete Intention der Geschäftsführung.
- Der Führungskreis erarbeitet einen Gegenvorschlag zum Umgang mit der vermuteten Situation und der vermuteten Intention der Geschäftsführung.
- Die Beteiligten üben den Vortrag vor der Geschäftsführung: zwei Freiwillige werden durch das Plenum gestützt.
Während der Intervention äußern die Beteiligten Sorgen, dass die Kritik "nach hinten losgehen" könnte. Der Führungskreis setzt auf "Feedback im Dreiklang" und "Einwandvorwegnahme", um die Argumentation vorzutragen. Einzelne Beteiligte äußern, dass das Vorgehen mehr als ungewöhnlich und risikoreich sei. Mögliche Risiken werden erörtert und in Argumentationen umgewandelt. Der Führungskreis beschließt, das Experiment zu wagen -- und möchte die konstruktive Kritik vortragen.
Zwei Mitglieder des Führungskreises tragen die konstruktive Kritik im Beisein der agilen Coaches der Geschäftsführung vor. Es ist sicht- und spürbar, dass die Vortragenden jenseits ihrer Komfortzone sind. Der Rest des Führungskreises stützt die Vortragenden in ihrem Vortrag.
Nach einer fünfzehn Minuten langen Pause (und eigener Klausur) nimmt die Geschäftsführung die konstruktive Kritik an und beginnt mit dem Führungskreis, konkrete Maßnahmen abzustimmen.
Nachdem die Geschäftsführung den Raum verlassen hat, äußern Mitglieder des Führungskreises im DeBriefing Sätze wie:
- "Das hätte ich nicht gedacht, dass das geht!",
- "Ich glaube, dass ist das erste Mal, dass mir jemand zugehört hat von denen",
- "Das war Zufall, dass das geklappt hat",
- "Das hat nur funktioniert, weil Ihr [die agilen Coaches] dabei wart" und
- "Die waren so souverän beim Zuhören. Als würden die darauf warten, dass wir das tun."
Eine einzelne Erfahrung kann so Grundannahmen verändern. In den meisten Fällen wird eine solche Erfahrung neben die Grundannahmen gestellt werden -- und zunächst als singuläre Ausnahme betrachtet werden. Mit jeder weiteren anderen Erfahrung werden diese die Grundannahmen der Beteiligten in Frage stellen.
Besprechbar sind in diesem Vorgang die gemeinsam angestrebten Werte:
- Wir möchten uns auf Augenhöhe begegnen.
- Wir geben uns unmittelbar konstruktives, annehmbares Feedback.
Diese Verbalisierungen können den Beteiligten helfen, Experimente in diesem Sinne zu unternehmen. Agile Coaches achten dabei darauf, dass die Schritte der Beteiligten stimmig und zum Beispiel den Ängsten oder dem Mut der Coachees angemessen formuliert sind.
Eine Kulturveränderung ist per Se nicht gut
Agile Methoden stützen die Organisationsmitglieder dabei, neue Erfahrungen zu machen. Sie geben Gerüst und Struktur -- und damit Sicherheit -- für diese.
Mit neuen Erfahrungen können die Beteiligten ihr tägliches Verhalten verändern. Ebenfalls hilfreich für Veränderungen sind Rituale. Wenn die Beteiligten jeden Tag in einem StandUp stehen und darum gebeten, auch darüber zu sprechen, was sie in ihrer Arbeit gehindert hat oder hindern wird, unterstützt das, über Schwierigkeiten mit dem Team zu sprechen und zu gemeinsamen Lösungen zu kommen.
Genau hier helfen agile Methoden. Sie unterstützen die Beteiligten, sich täglich und wiederholend anders zu verhalten. Dabei ist die Liste der gewünschten Veränderungen sehr lang:
- Die Organisation soll ihre Handlungen am schnellen Kundennutzen ausrichten.
- Die Organisation soll neue Geschäftsfelder oder -modelle erschließen.
- Die Organisation soll (zumindest) die operativen Entscheidungen direkt in die handelnden Teams übertragen.
- Die Organisation soll Lernen lernen.
- Die Führung soll ihre Arbeit (dienend) an den Teams ausrichten.
- Die Führung soll sich auf normative und strategische Ziele konzentrieren.
Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind es in vielen Organisationen gewohnt, dass Veränderungen einen Veränderungs- / Programmtitel haben. Veränderungen laufen als "Change", "Changes" werden betitelt.
Weil die Liste der Veränderungen lang ist, wird der Titel für dieses Veränderungsvorhaben, diesen "Change" groß. Der Kulturwandel wird ausgerufen. Damit wird das Anliegen der Beteiligten zum Titel der agilen Transition.
Das Anliegen klärt aber nicht, wohin die Organisation streben möchte. Das "Wozu" und "Wohin" werden so nicht ge- und erklärt. Mit dem Anliegen "Kulturwandel" klären die Beteiligten, wovon sie weg wollen.
Mit der Titelvergabe mutiert dieser gleichzeitig der Titel. "Wir müssen unsere Kultur ändern." Die vorher benannten Themenfelder und Ziele verschwinden hinter diesem Titel. So wird Agilität zum Selbstzweck.
Werden nun andere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit diesem Anliegen konfrontiert, eröffnet dies sehr schnell Wege in die Abwehr:
- "Nicht alles ist schlecht."
- "Wir haben Leistungen erbracht, die können doch nicht einfach nicht nichts mehr gelten."
- Kulturwandel. Damit das wird, müssen erstmal $Personengruppe ihr Verhalten ändern.
Und damit haben die Beteiligten Recht. Nicht alles war / ist schlecht. Wissensstände und Handwerk gibt es in den Organisationen. Und es wird sich nicht alles ändern (müssen).
Es wäre einfacher für alle Beteiligten, wenn mit einem Versprechen, dem Wohin oder einem Zielraum Verhaltensveränderungen ermöglicht würden - ohne dass die Beteiligten ihr bisheriges Verhalten bestätigen und verteidigen müssten.
Agile Methoden unterstützen die Beteiligten dabei, dieses Verhalten zu finden und zu leben. In allen agilen Methoden sind die Ausrichtung am Kundennutzen, kurze Zyklen und Lernen angelegt. Kulturwandel bedeutet, in der Gesamtheit veränderte Verhaltensweisen an den Tag zu legen. Hierfür geben agile Methoden ein gutes Gerüst und damit Halt in der Veränderung.
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