Höchstes Ziel einer agilen Transition ist eine Organisation, die das agile Manifest auf allen Organisationsstufen vollständig erfüllt. Eine solche Organisation wird mit den Anforderungen der digitalen Transformation fertig. Agile Organisationen sind
- vollständig am Kundennutzen ausgerichtet,
- in jeder Hinsicht lernend und setzen auf
- Augenhöhe zwischen allen Beteiligten.
Es gibt keinen festen Satz an Methoden, der zu einem bestimmten agilen Reifegrad AR-D bis AR-A führt. Jede Organisation wird in andere Form die jeweiligen agilen Reifegrade einlösen. In komplexen Umgebungen gibt es mehrere gültige Lösungen für gleiche Herausforderungen -- entsprechend "bunt" sind die erreichten Lösungen der Organisationen.
Im Gegensatz zu einem klassischen Change, der der Abfolge Sense – Analyse – Respond des komplizierten Habitats folgt, verändern Teams und Unternehmen sich in die Agilität über lernende Schritte. Die Organisationen führen agil mit agil ein. Die Einführung agiler Methoden sowohl in Teams als auch in den zugehörigen (womöglich zu bildenden) Führungsteams erfolgt iterativ, inkrementell und lernend.
Die nachfolgenden Agilisierungsstufen entstammen der Beobachtung der agilen Coaches der BERATUNG JUDITH ANDRESEN.
Es kann sein, dass unterschiedliche Organisationsteile einen unterschiedlichen Reifegrad aufweisen. Startete ein Unternehmensbereich früher in die Agiisierung und befindet sich dieser Unternehmensteil in AR-C, so kann es sein, dass dies in anderen Unternehmensteilen eine Auseinandersetzung mit AR-D fördert.
Die agilen Reifegrade charakterisieren die Lernfähigkeit und den Lernwillen von Organisationen.
Agilisierungsstufen erleichtern die Bestimmung des Transitionsdesigns für die Coachees (Teams, Organisationen oder Individuen). Würden die Coaches und Coachees dem klassischen Vorgehen folgen, würden sie zunächst die neue Struktur bestimmen und daraus den "Change" ableiten. Agiles Vorgehen bedeutet, zunächst funktionierende Prozesse (also Vorgehen) zu etablieren, um dann notwendige Strukturen (zum Beispiel über ein Organigramm ausgedrückt) abzuleiten.
Eine modellbasierte Einordnung des Zielraums wird die agilen Coaches unterstützen, das passende Transitionsdesign aufzusetzen. Die Einteilung in agile Reifegrade kann gleichzeitig den Coachees das Aufstellen des passenden Zielraums erleichtern. Es kann Transitionsteams helfen, den Fokus der Arbeit korrekt zu setzen.
- Konzentriere Dich erst auf funktionierende Teams (AR-D),
- lasse diese entlang der Wertschöpfungskette wachsen (AR-C),
- richte Führung daran aus (AR-B) und
- werde zu einer insgesamt lernenden Organisation (AR-A).
SWBLM: So wie beim letzten mal
Agilisierung beginnt in den meisten Unternehmen einzelnen in Teams. Teams starten „so wie beim letzten Mal“ . Einzelne Teams spüren, dass sie mit SWBLM nicht mehr weiterkommen.
Charakterisierend für SWBLM ist die schlechte Produktivität des Teams. Dabei kann es sein, dass die entsprechenden Teams ihr Tagesgeschäft, die Bearbeitung der Aufgaben aus dem komplizierten Umfeld gut bewältigen. Ziele, die sich aus der digitalen Transformation ergeben, sind für diese Teams nicht erreichbar. Sie haben keinen definierten Umgang mit Herausforderungen dieser Art.
Wissenstransfer innerhalb des Teams findet nicht statt. Wissenstransfer wird als unproduktive Zeit angesehen, welche dem Lehrenden oder der Lehrenden Umsetzungszeit ohne Gegenleistung nimmt.
AR-D: Echt im Team arbeiten
Im ersten Schritt klärt das betreffende Team für sich, welche agile Vorgehensweise im Prinzip für das Team sinnstiftend ist. Eine Einordnung von Aufgaben in das Cynefin-Framework kann hilfreich sein.
Das Team einigt sich auf eine grundlegende Ausrichtung wie zum Beispiel Extreme Programming, Scrum oder Kanban. Wichtigstes Moment des agilen Reifegrads AR-D ist, dass das Team einen PDCA-Zyklus für sich etabliert hat.
Nachdem das Team diese grundlegende Änderung (im Sinne des Kaikaku) herbeigeführt hat, werden die Teammitglieder Schritt für Schritt, Lernmoment für Lernmoment (im Sinne des Kaizen) diese Methode so weit anpassen, dass sie wirklich für das Team passt. In vielen agilen Methoden wird dieses ritualisierte Lernmoment über Retrospektiven realisiert.
Teams in AR-D etablieren einen PDCA-Zyklus für ihre Aufgaben.
Dabei gilt: „Weniger ist mehr.“ Es ist einfacher, mit wenigen Rollen und Artefakten in die Teamarbeit einzusteigen und diese zu leben. Echte Teamarbeit lässt sich an vier Faktoren ablesen:
- Die Teammitglieder bearbeiten die Aufgaben im Team gemeinsam.
- Das Team lernt aus seinen Erfahrungen.
- Die Teammitglieder tauschen Wissen aus und unterrichten sich gegenseitig.
- Das Team folgt einer gemeinsamen Mission.
Aufwand und Umfang der Teamentwicklung wird von vielen Teams unterschätzt. Die Agilisierung setzt häufig auf bestehenden Teamstrukturen auf. Es ist für viele Beteiligte erstaunlich, wie viel Aufwand notwendig ist, damit die Beteiligten echte Teamarbeit für sich entdecken.
Echtes Zusammenarbeiten zeichnet sich durch das gemeinsame Bearbeiten von Aufgaben aus. Es ist häufig zu beobachten, dass Gruppen als Teams bezeichnet werden, deren Beteiligte jeweils Einzelarbeit leisten. Formal werden Teamartefakte gelebt, faktisch werden Einzelaufgaben orchestriert. Bei allen Aufgaben ist klar, wem diese "gehören".
Teammitglieder lernen dann erst in agilen Umfeld, aufrichtig miteinander zu sprechen. Wenn Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im komplizierten Umfeld Fehler machen, zeigen sie, dass sie nicht vollständig analysiert haben. Sie zeigen also mit einem Fehler ihre eigene Inkompetenz auf. Probates Mittel zur eigenen Entlastung sind Schuldzuweisungen gegenüber anderen. Zur Statuswahrung ist es in einer Fehlerkultur notwendig, die eigene Kompetenz zu wahren.
Im komplexen Umfeld ist Experimentieren der Schlüssel zum Erfolg. Im Falle eines Experiments können alle Beteiligten immer lernen. Wenn das Ergebnis gut ist, wissen alle, dass sie gerade auf einem guten Pfad in Richtung ihres Zielraums sind, und können über eine Verstärkung des Phänomens nachdenken. Wenn das Ergebnis negativ ausfällt, ist klar, dass die genutzte Hypothese zu überdenken ist. So wird aus einer Fehler- eine Lernkultur.
AR-C: Im großen Team liefern
Mit dem zweiten agilen Reifegrad AR-C beginnt die Öffnung der häufig noch monodisziplinären Teams zu einem crossfunktionalen Arbeiten. Dafür sind nicht nur fachliche und kulturelle Hürden zu nehmen.
Es stellt sich mit der Erweiterung der Teams auch die Teamuhr neu. Die Teams müssen in der größeren Form wiederum um Vertraulichkeit und Lernkultur ringen. Gleichzeitig müssen die Beteiligten ein gemeinsames Verständnis ihrer Aufgaben entwickeln. Dabei stellt sich häufig sehr schnell heraus, dass Disziplinen, die bisher nacheinander gearbeitet haben, ein vollkommen falsches Verständnis der Tätigkeiten der anderen Disziplinen haben.
Auf Teamebene lösen diese Teams das agile Manifest ein.
Ziel ist eine crossfunktionale Zusammenarbeit, in der alle Beteiligten allen anderen jeweils zuarbeiten und bei Bedarf Arbeiten abnehmen können. Der Wissenstransfer ist für diese Teams besonders wichtig. Dabei lernen die Teammitglieder im ersten Schritt die Disziplinen der anderen Teammitglieder näher kennen. Dies geschieht, um ein gemeinsames Verständnis von den Abläufen zu erreichen. Im zweiten Schritt entsteht häufig eine Bewusstseinserweiterung der Teammitglieder. Sie lernen nicht nur neue Wörter, sondern auch neue Perspektiven und Problemfelder kennen, die ihnen aus ihrer eigenen Disziplin in der Form nicht bekannt waren. Dieses Zusammenwachsen der Disziplinen eröffnet häufig neue Denkansätze und Möglichkeitsräume, die das Team erobern kann.
Pair Programming, Pairing, Shadowing und Peer-Reviews sind genauso wichtige Methodenbausteine wie Trainings, um die Teams in eine crossfunktionale Zusammenarbeit zu bringen.
„Im großen Team zu liefern“ heißt, das Team um mehrere Disziplinen zu erweitern. Die Teammitglieder sorgen für ein überlappendes Kompetenzspektrum, so dass das Team auf jedwede Anforderung souverän und schnell reagieren kann. Gleichzeitig arbeitet das Team daran, lieferfähig zu werden.
Das Team muss sich finden, um schnelle Verprobungen mit dem Kunden zu ermöglichen. Im Fokus liegt das „Experimentieren zum Kundennutzen“ . Dafür sind geeignete Prozesse zu etablieren.
Experimentieren ist die schnellste Lernform, im komplexen und chaotischen Umfeld korrekte Ergebnisse zu erzeugen.
Für Experimente als Lösungsvorgehen müssen Teams im agilen Reifegrad AR-C werben. Für Organisationen, die einen klassischen Ansatz gewohnt sind, sind häufig nur Experimente akzeptabel, wenn diese erfolgreich verlaufen. Das klingt widersinnig. In einem komplizierten Umfeld ist diese Aussage aber korrekt. Durch eine genügend tiefe Analyse ist in einem Umfeld, in dem eine klare Ursache-Wirkungs-Beziehung herrscht, das Experiment weitestgehend voraussagbar. Daher ist einigen Unternehmen selbst die Forderung nach einem Experiment ein Anzeichen für die Inkompetenz der Beteiligten: „Wenn die lang genug nachdenken würden, müssten die nicht experimentieren“ heißt es dann. Im komplexen Umfeld herrscht keine vorhersagbare Ursache-Wirkungs-Beziehung. Es gilt, Hypothesen frühzeitig zu verwerfen oder zu bestätigen. Für diesen Vorgehenswechsel wirbt das agile Team nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Der Paradigmenwechsel von kompliziert auf komplex ist groß und muss immer wieder ins Bewusstsein gerufen werden.
Neben diesen kommunikativen Aufgaben sind häufig technische oder organisatorische Hürden zu überwinden, um die Experimente schnell beim Kunden erproben zu können. In technischen Umgebungen könnte eine solche Hürde die Release-Fähigkeit in einem verwobenen System sein. In Nicht-IT-Umgebungen gibt es oft langwierige Freigabeprozesse, die häufig mit Marketingprozessen verquickt sind.
Die Teams des Reifegrads AR-C streben eine maximale Unabhängigkeit von ihrer Umgebung an. Die Teams können sehr schnell mit den Kunden sprechen und diese mit Produktexperimenten versorgen.
Um diese Abhängigkeiten zu lösen, muss die Organisation als Ganzes den bisherigen Anspruch fallen lassen, alle Kunden und Kundinnen zu jedem Zeitpunkt mit dem gleichen Produkterlebnis anzusprechen. Dies adressiert Unsicherheit bei den Organisationsteilen, die sich noch an einer komplizierten Aufgabenstellung ausrichten. Uneinheitlichkeit spricht in der komplizierten Welt für Inkompetenz. Standardisierung und Generalisierung sind in komplizierten Umgebungen sehr gute Leitplanken. Es bedarf großer Überzeugungsarbeit, die die agilen Teams leisten müssen.
Das agile Team versucht Schritt für Schritt, Unabhängigkeit herzustellen.
Diese Veränderungen treiben das performante Team zum Kundennutzen, dabei bemüht es sich sehr um Fairness. Fairness zeigt sich schon im Reifegrad AR-D als Leitmotiv: Miteinander lernen und Vorgänge verstehen, heißt auch immer, Motive und Bedürfnisse der Beteiligten zu erkennen und mit ihnen umzugehen. Diese Haltung transferiert sich ebenso im Reifegrad AR-C auf den Umgang mit Nicht-Teammitgliedern.
AR-B: Führung an Teams ausrichten
In Einzelfällen ist der veränderte Umgang mit Führung leicht verhandelbar. Die Teams prägen jeweils mit den beteiligten Personen eine Einzelfalllösung aus. Das geschieht noch im agilen Reifegrad *AR-D* oder *AR-C*.
Die in diesen Reifegraden gefundene Einzelfalllösung entspricht der agilen Vorgehensweise. Die Teams schaffen schnell und lernend eine für sie funktionierende Lösung.
Die Teams erlangen Klarheit über schnelllernende und effiziente Prozesse. Sobald diese Prozesse stehen, kann sich die Führung formieren. Die Leitfrage dabei entsteht aus der dienenden Leitung. Die Frage „Was muss ich tun, damit das Team zur Höchstleistung kommt?“ wird zur generellen Frage:
Die klassisch-hierarchische Führung nach „Command + Control“ vereinigt drei Führungsaufträge, nämlich
- disziplinarische Führung,
- prozessuale Führung und
- fachliche Führung,
in einer Person. In agilen Systemen werden diese Führungsaufträge häufig auf unterschiedliche Personen oder in die Teams abgegeben.
Agile Teams des agilen Reifegrads AR-C versuchen, die operativen Entscheidungen der beteiligten Disziplinen im Umsetzungsteam zu treffen. Das bringt Schnelligkeit und hohes Kundenverständnis in die Entscheidungen. Damit ihnen das gelingen kann, orientieren sich die Führungskräfte in ihrem Führungsverhalten: Sie richten ihre Arbeit an der Handlungsfähigkeit der agilen Teams aus.
“Was kann ich tun, damit das Team zur Höchstleistung kommt?“ ist die Frage an die dienende Leitung, an der sich alle agilen, das heißt die disziplinarischen, prozessualen und fachlichen Führungskräfte ausrichten.
Die Antworten darauf sind sehr vom Unternehmenskern abhängig. Während es für manche Unternehmen sehr viel Sinn ergibt, Triaden aus Fachlichkeit, Technik und Prozessführung zu bilden, ergibt es für andere Unternehmen mehr Sinn, die jeweiligen Führungsformen lose an die Teams zu koppeln.
Alle Führungskräfte richten ihren Fokus darauf, die Teams zur Höchstleistung zu bringen. Die Teams bringen ihr interdisziplinäres Verständnis und ihre interdisziplinäre Handlungskompetenz ein. Es ist die Aufgabe aller Führungskräfte, Hindernisse zu erkennen und für eine Änderung zu sorgen. Dabei achten alle Führungskräfte darauf, sich nicht im Kümmern und Beschützen zu verlieren. Eine Haltung als „Scrum Mutti oder Papa Schlumpf“ ist kontraproduktiv.
Teil des Reifens hin zu AR-B ist eine bewusste Auseinandersetzung zwischen Team und Führungskräften, wer welche Führungsfunktionen ausüben wird. Dabei sind sowohl fixe als auch laterale Rollen denkbar. Neben der disziplinarischen Führung sind auch laterale Führungsfunktionen auszuprägen und zu definieren.
Mit dieser Auseinandersetzung beginnt der Weg in die lernende Organisation AR-A. Als Leitplanke dient die Aufforderung Jurgen Appelos: „Manage the System, not the People“. Welche Prozesse, Rituale und Vorgehensweisen helfen dem Team, das Teamziel performant zu erreichen?
Während in AR-D und AR-C sich die einzelnen Teams im Unternehmen entsprechend ihrer Aufgaben neu formieren und finden, entwickelt sich das Führungsteam in der Stufe AR-B am Weitesten. Das Führungsteam entscheidet für die Teams normativ und gegebenenfalls auch strategisch.
AR-A: In und mit der agilen Organisation lernen
Mit AR-D und AR-C etablieren sich im Unternehmen lernende Teams, die in AR-B durch Führungsteams geleitet werden. Dabei sind alle Lernerfolge eher von lokaler Natur, da jedes Team zunächst die Lösung in sich selbst sucht. Mit dem agilen Reifegrad AR-A ist die Organisation in der Lage, Erkenntnisse aus einem Wertschöpfungsstrang unmittelbar in einen anderen Strang zu transferieren.
Dabei sind nicht nur kleine, kontinuierliche Veränderungen (Kaizen) möglich. Die Organisation ist in der Lage, Impulse lokal aufzunehmen und global umzusetzen. Die Organisation ist veränderungsfähig und kann sich schnell neu ausrichten. Damit können auch große Veränderungen (Kaikaku) durch lokale Anstöße initiiert werden.
Je nach Anstoß ist die Organisation als Ganzes in der Lage, auf Impulse mit Experimenten und – wo notwendig – mit strukturellen Veränderungen zu reagieren. Je nach Anstoß und Experiment prägt die Organisation fluide oder fixe Strukturen mit interdisziplinären, crossfunktionalen oder disziplinären Teams aus.
Die Organisation begreift fehlgeschlagene Experimente nicht als Scheitern, sondern als ein wesentliches Lernmoment.
Artikelserie "Agiles Coaching"
Teil 01 | Mit Haltung
Teil 02 | Werte
Teil 03 | Aufgabe
Teil 04 | Coachinghypothese
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